Was ist Kulturpsychologie?

Kulturpsychologie bezeichnet ein interdisziplinäres Wissenschaftsgebiet, das die Sinn- und Bedeutungskonstruktionen des Menschen in seinem spezifischen kulturellen Umfeld ebenso wie das damit verbundene Erleben und Handeln zum Gegenstand hat.

Definition

Kulturpsychologie lässt sich nach Jerome Bruner als eine interpretative Wissenschaft verstehen, in der Sinn bzw. Bedeutung im Mittelpunkt stehen. Die verschiedenen Ansätze in der Kulturpsychologie gründen, wie beispielsweise Billmann-Mahecha herausstellt, in einem Kulturbegriff, der als Zeichen-, Wissens-, Regel- und Symbolsystem charakterisiert werden kann. Dieses System strukturiert als kulturspezifisches Fundament den Erlebnis- und Handlungsraum von Menschen und trägt im Vollzug zur Konstruktion und Transformation der Handlungs- und Lebenspraxis bei. Kultur und Psyche bedingen sich hierbei wechselseitig. Eine Person ohne Berücksichtigung der spezifischen Einbettung in einem kulturellen und historischen Kontext ist daher nicht das Ziel der Kulturpsychologie.
Nach: Billmann-Mahecha, E. (2003). Kulturpsychologie. In Psychologie von A-Z. Die sechzig wichtigsten Disziplinen (S. 96-99). München: Spektrum, S. 97.

Nähe und Distanz zu anderen Psychologien

Im Gegensatz zur dominierenden (nomologischen, naturwissenschaftlich ausgerichteten) Psychologie sowie ihrer Teildisziplin der kulturvergleichenden bzw. interkulturellen Psychologie (cross-cultural psychology) betont die Kulturpsychologie (cultural psychology), dass sich das Verhalten von Personen nicht ausschließlich objektiv beschreiben und durch vereinfachte Kausalzusammenhänge erklären lässt. Deshalb versteht die Kulturpsychologie sich auch als Alternative zur bzw. Ergänzung der nomothetischen Psychologie. Menschen handeln aufgrund von Intentionen, Bedeutungen und emotionalen Grundstimmungen, die sie in ihrer Biographie und soziokulturellen Lebenspraxis erfuhren und die je nach Kontext Erlebnisse und Handlungen anregen und damit erst ermöglichen. Erlebnisse und Handlungen weisen (nach Ernst Boesch ‚polyvalente‘) Sinn- und Bedeutungsaspekte auf. Inhaltliche Bezüge der Kulturpsychologie bestehen zu den Indigenen Psychologien, zur Ethnopsychologie und Ethnopsychoanalyse sowie zu verschiedenen hermeneutisch-semiotischen Ansätzen in Psychologie, Philosophie, Soziologie und Ethnologie.

Historische Ursprünge

Da es sich bei der Kulturpsychologie um ein Wissenschaftsgebiet handelt, das sich insbesondere in verschiedenen europäischen Ländern sowie in den USA entwickelte, kommen vielfältige historische Ursprünge in Betracht. So spielten die Völkerpsychologien von Moritz Lazarus und Hajm Steinthal oder Wilhelm Wundt in Deutschland eine wichtige Rolle. Kulturpsychologie als Begriff war in enger Anlehnung an die Völkerpsychologie durch Erich Stern und Willi Hellpach bereits eingeführt. Dieser unterschied sich allerdings deutlich von den aktuellen Ansätzen in theoretischer, methodologischer und auch normativer Hinsicht. 

Für die USA liegt der Anfang der Kulturpsychologie in der Cultural anthropology bzw. in der Psychological anthropology und dort speziell in den Culture and personality studies, die von Franz Boas, Ruth Benedict und Margaret Mead angeregt wurden. Robert LeVine führte die bis in die 1960er Jahre bestehende Tradition unter Abram Kardiner Ende der 1970er Jahre weiter und erfand hierfür den Begriff Cultural psychology, den er und sein Schüler Richard Shweder in den wissenschaftlichen Diskurs brachten. Ein weiterer wichtiger Grund für die Etablierung einer Kulturpsychologie in den USA stellt die sogenannte kognitive Wende in der Psychologie dar, die die Überwindung des vorherrschenden behavioristischen Paradigmas von Reiz und Reaktion durch die Erforschung von erlebnis- und handlungsrelevanten Sinn- und Bedeutungsstrukturen zum Ziel hatte. Enttäuscht von der sich nicht erfüllenden Hoffnung auf eine grundlegende Erneuerung der Psychologie, die Jerome Bruner mit der ersten kognitiven Wende verband, forderte dieser vor allem in den 1990er Jahren eine ‚zweite kognitive Revolution‘, die er auch als Cultural psychology bezeichnete. Dabei konnte er wie viele andere – etwa Michael Cole, Sylvia Scribner, Barbara Rogoff, Jaan Valsiner und Carl Ratner – nicht zuletzt an die Tradition der sowjetischen Kulturhistorischen Schule und Tätigkeitspsychologie (Lew Wygotski, Alexandr Lurija und Alexej Leontjev) anschließen. Beispielsweise die Macro cultural psychology Carl Ratners steht für einen neuen innovativen theoretischen Ansatz, der die Bedeutung von sozialen Institutionen für psychologische Phänomene betonte.


In Deutschland arbeitete Ernst Boesch seit den 1950er Jahren eine symbolisch-handlungstheoretisch ausgerichtete Kulturpsychologie aus, die bis heute einflussreich ist. Boeschs eigenständiger und origineller Ansatz fand allerdings bis in die 1980er Jahre kaum Resonanz. Zur gleichen Zeit entstand zudem die Psychologische Morphologie von Wilhelm Salber, die eine Verbindung zwischen Gestaltpsychologie und Tiefenpsychologie suchte, um auch kulturelle Phänomene erforschen zu können. Ab den 1970er Jahren trat die Kritische Psychologie von Klaus Holzkamp hinzu, die in enger Anlehnung an die sowjetische Tätigkeitspsychologie die kulturhistorische Kontextgebundenheit menschlichen Erlebens und Verhaltens betont, ohne sich im engeren Sinne als Kulturpsychologie zu verstehen. Ähnliches gilt für andere (subjekt-, sozial- und kulturwissenschaftliche) Ansätze in der Psychologie und der Ethnologie, die den Nexus zwischen Kultur und Person betonen und ihre Forschungen als interpretative Praxis verstehen, z. B. die sozialkonstruktionistische Psychologie von Kenneth Gergen oder die semiotisch-interpretative Kulturanthropologie von Clifford Geertz. 


Ganz wesentlich zur Etablierung kulturpsychologischen Wissens haben die kulturtheoretischen Schriften der Psychoanalyse beigetragen. Sigmund Freud (Totem und Tabu, Das Unbehagen in der Kultur) beschrieb Kultur als eine gestaltende, aber auch repressive Kraft auf das unbewusste Erleben des Menschen. Der Ethnologe Géza Róheim wandte die Erkenntnisse der Psychoanalyse auf so genannte indigene Gesellschaften an und gehört zu den Wegbereitern der Ethnopsychoanalyse, die ebenso wesentliche Impulse durch Georges Devereux erhielt. Die Bedeutung der Kultur für das Unbewusste fand ihren Niederschlag auch in den neopsychoanalytischen Arbeiten im Umkreis der Frankfurter Schule, z. B. bei Erich Fromm (Mythenanalysen), Herbert Marcuse (Einfluss der Kultur auf die Triebstruktur) und Alfred Lorenzer (Szenisches Verstehen als kulturpsychologische Methode). Die Analytische Psychologie Carl Gustav Jungs suchte nach kollektiven Deutungsmustern (Archetypen), die als Universalien menschliches Erleben über verschiedene Kulturen (z. B. östliche und westliche Religionen) erklären und verständlich machen wollten.

Die heutige Kulturpsychologie reflektiert – auch in Abhängigkeit von dem jeweiligen historischen Ursprung – heterogene Ansätze, die basierend auf gemeinsamen methodischen Prinzipien und einem verbindenden konzeptuellen Grundverständnis den Menschen in seinem kulturhistorischen Kontext verstehen wollen. Dadurch beginnt sie auch, sich für postkolonialistische und indigen-psychologische Perspektiven auf vorwiegend „westlich“ geprägte Diskurse der Psychologie, einschließlich ihrer eigenen, der Kulturpsychologie, zu interessieren.

Methodik

Da sich Sinn- und Bedeutungskonstruktionen von psychischen Phänomenen im Gegensatz zu naturwissenschaftlich orientierten
Methoden (z. B. dem psychologischen Experiment) nur rekonstruktiv und interpretativ erschließen lassen, bedienen sich die
Kulturpsychologien primär der Methoden qualitativer Sozialforschung und Kulturanalyse, die sie sich größtenteils mit anderen
Sozialwissenschaften teilen. Spezielle kulturpsychologische Methoden finden sich etwa bei Wilhelm Salbers Psychologischer
Morphologie1, bei Ernst Boeschs Symbolischer Handlungstheorie und Kulturpsychologie2, aber auch in kulturpsychologisch
relevanten ethnopsychoanalytischen oder tiefenhermeneutischen Ansätzen3. Neuere Ansätze, wie etwa die Relationale
Hermeneutik und komparative Analyse von Jürgen Straub, versuchen über vergleichendes Interpretieren kulturelle Strukturen
des Erlebens offenzulegen4.


Als zentrale Analyseeinheiten bieten sich in der Kulturpsychologie neben Erlebnissen und Handlungen auch Erzählungen an, in
denen komplexe Erlebnis- und Handlungsgeschichten sowie damit verwobene psychosoziale Entwicklungen untersucht werden
können. Deswegen gibt es – wie u.a. bei Bruner und Boesch, später auch bei Jens Brockmeier – enge Verbindungen zwischen
der Kulturpsychologie und der narrativen Psychologie5.

1 Fitzek, H. (2020). Morphologische Beschreibung. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Qualitative Forschung in der Psychologie. Ein Handbuch (Bd. 2S. 711–729).
Wiesbaden: Springer.
2 Boesch, E. E. (1977). Konnotationsanalyse – zur Verwendung der freien Ideenassoziation in Diagnostik und Therapie. Materialien zur Psychoanalyse und analytisch
orientierten Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
3 Methodische Forschungsansätze der Kulturpsychologie, in U. Wolfradt, L. Allolio-Näcke & P. S. Ruppel (2023). Kulturpsychologie: Eine Einführung (S. 155–294).
Wiesbaden: Springer.
4 Straub, J. (2022). Relationale Hermeneutik und komparative Analyse: Ver- gleichendes Interpretieren als produktives Zentrum empirischer Forschung in

Kulturpsychologie und Mikrosoziologie. In J. Straub, Verstehendes Erklären. Sprache, Bilder und Personen in der Methodologie einer relationalen Hermeneutik. Schriften zu einer handlungstheoretischen Kulturpsychologie (S. 95–184). Gießen: Psychosozial.
5 Brockmeier, J. (2022). Erzählen als Lebensform. Ernst E. Boesch-Preis für Kulturpsychologie 2021. Gießen: Psychosozial.

Organisation

Im Gegensatz zur dominierenden (nomologischen, naturwissenschaftlich ausgerichteten) Psychologie sowie ihrer Teildisziplin der kulturvergleichenden bzw. interkulturellen Psychologie (cross-cultural psychology) betont die Kulturpsychologie (cultural psychology), dass sich das Verhalten von Personen nicht ausschließlich objektiv beschreiben und durch vereinfachte Kausalzusammenhänge erklären lässt. Deshalb versteht die Kulturpsychologie sich auch als Alternative zur bzw. Ergänzung der nomothetischen Psychologie. Menschen handeln aufgrund von Intentionen, Bedeutungen und emotionalen Grundstimmungen, die sie in ihrer Biographie und soziokulturellen Lebenspraxis erfuhren und die je nach Kontext Erlebnisse und Handlungen anregen und damit erst ermöglichen. Erlebnisse und Handlungen weisen (nach Ernst Boesch ‚polyvalente‘) Sinn- und Bedeutungsaspekte auf. Inhaltliche Bezüge der Kulturpsychologie bestehen zu den Indigenen Psychologien, zur Ethnopsychologie und Ethnopsychoanalyse sowie zu verschiedenen hermeneutisch-semiotischen Ansätzen in Psychologie, Philosophie, Soziologie und Ethnologie.

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